Leseprobe aus: Leena Lehtolainen Ich war nie bei dir
5 PROLOG Manchmal werde ich gebeten, über ein bestimmtes Motiv oder Thema zu schreiben. Gelegentlich sprechen mich auch Men- schen an, die mich als Autorin für ihre Biographie gewinnen möchten. Solche Angebote lehne ich höflich dankend ab. Es kommt für mich nicht in Frage, lebende Personen als Vorbilder für meine Romanfiguren oder wahre Begebenheiten als direkte Grundlage meiner Bücher zu verwenden. Manchmal glimmt ein Thema, das man mir vorschlägt, in meinem Unterbewusst- sein weiter, bevor es sich schließlich in Fiktion verwandelt, aber dabei verändert es sich durch und durch. Bei einer Lesung in der Schule von Eestinkallio sprach mich eine Lehrerin namens Jaana Järvelä-Rämesuo an. Sie sagte, wir seien Studienkolleginnen gewesen. Ich konnte mich nicht an sie erinnern, aber das war kein Wunder, denn in den Vorlesungen über finnische Literatur hatte es von Lehramtsstudentinnen ge- wimmelt, eine schüchterner und farbloser als die andere. Später, als ich mich bereits dafür entschieden hatte, Jaanas Geschichte zu schreiben, entdeckte ich in meinem Archiv tatsächlich eine Proseminararbeit von ihr über die Rolle der Phantasie in Anni Swans Jugendbüchern. Etwa zwei Wochen nach der Lesung rief Jaana mich an, um mir ihre Tagebücher und die ihres Mannes Riku als Material für einen Roman anzubieten. Bei dem Auftritt in der Schule hatte ich erwähnt, wie wichtig mir schon als Kind mein Tagebuch gewesen war, und dar aus hatte Jaana offenbar geschlossen, dass ich die Richtige sei, ihre Tagebücher in ein literarisches Werk zu verwandeln. Ich lehnte zunächst rundweg ab. Eine überraschende Wende, die nach unserer Begegnung eintrat, veranlasste mich jedoch, meinen Entschluss zu ändern. So ist dieses Buch entstanden. Ich behaupte nicht, dass ich die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit niedergeschrieben habe, ohne etwas zu verän- dern oder auszulassen. Dies ist die Geschichte von Jaana und Riku, so wie ich sie sehe. Caën, den 24. 4. 200x Die Autorin
7 EINS Der Anfang Einen Tag vor ihrem einundvierzigsten Geburtstag merkte Jaana Järvelä-Rämesuo, dass ihr Mann Riku heimlich in ihrem Tage- buch las. Riku war immer eifersüchtig auf das Buch gewesen, dem Jaana all das anvertraute, wor über sie mit ihrem Mann nicht sprechen wollte, beispielsweise über seine Potenzschwäche oder über ihre Gefühle für Ilkka. Allerdings kam Ilkka im ak- tuellen Tagebuch nicht vor, denn dieser Rausch war bereits vor einigen Jahren verflogen, es ging um all die anderen Dinge, über die sie seit langem nicht mehr mit Riku sprechen konnte : um Träume, Befürchtungen, Anlässe zur Freude, aber auch um die Frustration, mit der sie verfolgte, wie Riku immer depressiver wurde. Es waren zwei Kleinigkeiten, die Jaana stutzig machten. Ers- tens hatte ihr aktuelles Tagebuch ein Lesebändchen, das es ihr erleichterte, die zuletzt beschriebene Seite aufzuschlagen. Doch diesmal lag das Bändchen hinter der ersten Seite. Jaana schöpfte sofort Verdacht. Das zweite Indiz wog noch schwerer : Ein paar Tage zuvor hatte sie geschrieben, dass sie Rikus lautes Schmatzen beim Frühstück unerträglich fand. Am Donnerstag- morgen, einen Tag vor ihrem Geburtstag, saßen sie wie immer gemeinsam am Tisch. Lotta und Lauri, die beiden Kinder, hatten ihr Frühstück bereits her untergeschlungen, doch Jaana und Riku ließen sich Zeit und lasen beim Essen Zeitung. Jaanas Unterricht begann erst um zehn Uhr, Riku wollte zur gleichen Zeit aufbrechen und abends länger arbeiten. Jaana hätte sich am liebsten die Ohren zugehalten, während Riku gedankenverloren frühstückte. Dann hielt er plötzlich inne, sah Jaana an und wurde rot. In dem Moment war sie sich sicher. Sie stand auf, ohne ihren Kaffee auszutrinken. Sie hatte Angst, etwas Falsches zu sagen. Vielleicht war sie Riku gegenüber ungerecht. Sie wusste ja, wie erschöpft er war, und die Drohungen der Tierversuchsgegner, die er in letzter Zeit erhalten hatte, sorgten für zusätzlichen Stress. Jaana schämte sich, weil sie auch noch Anforderungen an ihn stellte. Eine Frau musste ihrem Mann den Rücken stärken. Aber wie sollte sie das tun, wenn er sich immer mehr abkapselte und schwieg ? Plötzlich fühlte Jaana Panik in sich aufsteigen. Seit mehr als dreißig Jahren führte sie Tagebuch. Wie sollte sie ohne aus kommen ? Zwar hatte es bisweilen längere Unterbrechungen gegeben, doch wenn sie besonders glücklich oder besonders traurig gewesen war, hatte sie immer wieder zu ihrem Tagebuch gegriffen. Die längsten Schreibpausen fielen in Zeiten, in denen ihr alles gleichgültig war. Jaana wählte ihre Tagebücher sorgfältig aus, es kam durchaus nicht jedes beliebige Heft in Frage. In der Schulzeit hatte sie meist kleine, mit buntem Marimekko-Stoff bezogene Büchlein verwendet, die in die Handtasche passten, aber allzu schnell vollgeschrieben waren. Dann ging sie zu dekorativen Büchern aus dem China-Basar über, mit eng linierten Seiten. Später, als Erwachsene, kaufte sie handgemachte Unikate und suchte auf Reisen nach außergewöhnlichen Exemplaren. Alles in allem hatte sie über sechzig Tagebücher. Wie lange las Riku bereits darin ? Von der Küchentür aus warf sie ihm einen Blick zu. Er sah aus wie immer. Hatte er die ganze Zeit vorgegeben, nicht zu wissen, was in ihrem Kopf vorging, oder hatte er erst kürzlich mit dem Spionieren angefangen ? Im Auto redete Jaana ununterbrochen, aber nicht, weil sie Riku so viel zu sagen gehabt hätte, sondern im Gegenteil, weil es nichts zu sagen gab. Sie plapperte über die Zugvögel, die sie sehnsüchtig erwartete, und über die eisverkrusteten Bäume am Straßenrand. Es war Mitte März, noch herrschte ideales Skiwetter, und Riku, Jaana und Lauri liefen an den Wochenenden gemeinsam Ski. Die fünfzehnjährige Lotta dagegen war nicht mehr auf die Loipe zu bekommen, obwohl Riku sie mit dem Hinweis zu kö- dern versuchte, für Mädchen, die auf ihr Gewicht achteten, sei Skilanglauf der ideale Sport. Lotta hatte im Herbst aufgehört, Fleisch zu essen, und entwickelte nun auch eine Abneigung gegen Milchprodukte. Um sie davon abzubringen, versuchte Jaana ihr wider besseres Wissen einzureden, dass sie noch wachsen würde. Jaana setzte Riku am Labor ab und fuhr weiter in Richtung Espoo. Als sie auf der Finnoontie an einer Ampel halten musste, atmete sie tief durch und versuchte sich zu entkrampfen. Was sollte sie tun ? Einen verschließbaren Schrank für ihre Tagebü- cher kaufen ? Nein, damit hätte sie Riku klar zu verstehen ge- geben, dass sie wusste, was er getan hatte. Verstecken war auch keine Alternative, denn es gab im ganzen Haus keinen Raum, zu dem nur sie allein Zutritt hatte. Bisher hatte sie sich dar auf ver- lassen, dass niemand die Tagebücher aus dem Regal in der Klei- derkammer nahm, in der auch ihr Schreibtisch stand. Ein großer Teil von Jaanas Aufzeichnungen betraf die Kinder. In ihren ersten Lebensjahren hatte sie jedes neue Wort und jeden Entwicklungsschritt gewissenhaft notiert.
Diese Tagebücher hätte sie jedem zeigen können. Ich versuchte, in den Auf- zeichnungen wiederkehrende Muster zu finden, Jaanas Kern, etwas, das erklären würde, weshalb die Dinge sich so und nicht anders entwickelt hatten. In einer späteren Arbeitsphase waren mir auch Rikus einigermaßen wortkarge Tagebücher hilfreich, von denen Jaana mir Kopien zustellte, da sie die Originale der Polizei aushändigen musste. Jaana war beim Zurücksetzen auf dem Lehrerparkplatz so in Gedanken, dass sie beinahe den Physiklehrer überfahren hätte, der zum Glück in letzter Sekunde zur Seite sprang. Da sie an sich eine aufmerksame und rücksichtsvolle Fahrerin war, erschrak sie heftig und schnappte noch nach Luft, als sie die Schultür öffnete. Auf dem Flur kam ihr Kukka entgegen und grüßte freundlich. Sie war eine ihrer liebsten Kolleginnen. Allerdings verspürte Jaana in ihrer Gegenwart oft vage Gewissensbisse, was eigentlich idiotisch war, denn letzten Endes war zwischen Jaana und Kukkas Mann Ilkka ja gar nichts vorgefallen. Kukka hatte tulpenrote Wangen und trug mit Vorliebe selbstgenähte, wehende geblümte Kleider. Sie unterrichtete textiles Gestalten, ein Wahlfach, das an der Eestinkallio-Schule ungewöhnlich beliebt war. Jaana überlegte, ob sie Kukka erzählen sollte, dass Riku in ihrem Tagebuch gelesen hatte, doch wegen der Geschichte mit Ilkka verwarf sie den Gedanken. Aber mit irgendwem musste sie sprechen und sich Rat holen. Ohne ihr Tagebuch konnte sie nicht leben, denn das Schreiben war der einzige Weg, Distanz zu den Ereignissen zu gewinnen und stürmische Gefühle zu zügeln. Im Lehrerzimmer schaltete Pirjo, die Geschichtslehrerin, ge-rade ihren Laptop aus. Jaana setzte sich neben sie an den mitt- leren Tisch, wo sie ihren Stammplatz hatte. Die Lehrer der naturwissenschaftlichen Fächer nannten den Tisch Humanisticum, weil sich um ihn auch die Sprach- und Kunstlehrer sowie Kukka versammelten. « Puh, der Test ist endlich fertig ! » Pirjo zog den Speicherstick aus der Buchse und steckte ihn ein. Da merkte Jaana plötzlich, dass sie eine Lösung gefunden hatte, die zwar nicht optimal, aber praktikabel war. Von nun an würde sie ihr Tagebuch am Laptop schreiben und auf einem USB-Stick speichern, den sie immer bei sich tragen oder notfalls in ihrer Schmuckschatulle einschließen konnte. Doch ihre anfängliche Begeisterung über diesen Einfall legte sich bald. Es würde ihr nicht leichtfallen, im Vorortzug oder im Bus den Computer zu benutzen. Schon wenn sie in der Öffentlichkeit ihr Lektüreheft vervollständigte oder Texte für den Unterricht schrieb, hatte sie oft das Gefühl, dass die Mitreisenden ihr über die Schulter guckten. Der Text auf dem Bildschirm war wesentlich leichter mitzulesen als ihre verschlungene Handschrift. Aber vermutlich gab es keine andere Möglichkeit. Jaana seufzte. Sie war es gewöhnt, Tagebuch zu schreiben, wann immer ihr danach war. Selbst guten Freunden mochte sie nicht ständig mit Klagen kommen, und über ihr Liebesleben hätte sie erst recht nicht mit anderen sprechen können. Sie wurde rot, als ihr einfiel, was sie über ihre letzte Liebesnacht geschrieben hatte. Ob Riku auch das gelesen hatte ? Dabei war er ohnehin schon deprimiert genug. Natürlich würde Riku sich wundern, wenn Jaana plötzlich nichts mehr in ihr Tagebuch schrieb. Also musste sie parallel auch das alte weiterführen. Sie nahm sich vor, es mit unverfänglichen Eintragungen zu füllen, die Riku gefallen würden. Sie wollte ihm die Jaana präsentieren, in die er sich vor zwanzig Jahren verguckt und bald dar auf verliebt hatte. Es klingelte. Die Schüler der 9 C präsentierten ihre Referate über literarische Werke, doch Jaana hörte nur mit einem Ohr zu. Auf dem Heimweg würde sie einen Speicherstick kaufen. Einen schönen, falls es so etwas gab.
17. 3. 200x Jetzt fange ich also dieses neue Tagebuch an. Es fällt mir schwer, intime Gedanken in dieser Form niederzuschreiben, denn bisher war der Computer für mich immer nur ein Arbeitsgerät. Ich bin wütend auf Riku, weil er mich zu diesem Ausweg zwingt. Zum Glück ist er noch nicht zu Hause. Es kommt mir vor, als hätte er mich in ein Eisloch gestoßen und die Leiter weggenommen. Vor Wut bin ich innerlich wie erstarrt. Ilkka liest bestimmt nicht in Kukkas Tagebüchern. Aber was hätte sie auch zu verbergen ? Ihr Leben ist wunderbar, mit Ilkka läuft es bestens, die Kinder sind goldig, die eigenen wie auch die in der Schule. Kukkas Leben scheint perfekt zu sein, sie schafft es sogar, Marmelade zu kochen, zu nähen und Nordic Walking zu treiben. Trotzdem ist sie weder langweilig noch aufgesetzt munter. Wenn sie doch eins von beiden wäre ! Dann hätte ich mich vielleicht nicht gescheut, eine Affäre mit Ilkka anzufangen. Aber ich war schon mit Kukka befreundet, als ich ihn kennen- lernte. War um komme ich jetzt auf diese alte Geschichte zu- rück ? Ist sie das größte Geheimnis, das ich vor Riku verbergen will ? Ich habe doch gar keine Geheimnisse. Mein Leben ist transparent, man könnte es in einem Schaufenster ausstellen. Oder besteht das wahre Geheimnis in der Tatsache, dass ich Rikus Abwesenheit oft als Erleichterung empfinde, mich freier fühle, wenn ich mit den Kindern allein bin ? Als würde Riku mich beobachten, meine Gespräche belauschen – was er ja auch wirk- lich tut. Jetzt ist er in mein Tagebuch eingedrungen und zwingt mich, die vertrauten weichen Seiten Papier aufzugeben und meine Geheimnisse einem starren Speicherstick anzuvertrauen. Das Tagebuch mit dem Mona-Lisa-Einband, das ich in Paris gekauft habe, bleibt unvollendet, das heißt, ich führe es zwar weiter, aber es ist kein intimer Bericht mehr, sondern etwas, das Riku durchblättern und untersuchen kann. Er wird sich ein- bilden, mich hinter diesen Worten zu finden, dabei werden sie nur eine Maske sein, die er mir aufgezwungen hat.
17. 3. 200x Der Schultag war ganz okay, Milla Laaksonen hat ein gutes Referat über die Gedichte von Saima Harmaja gehalten, hätte ich ihr gar nicht zugetraut. Die Jungen haben natürlich ge- gähnt, und ich fürchte, meine Lotta würde sich auch nichts aus der Dichterin machen. Riku arbeitet heute länger, und ich mache mir Sorgen, weil er nichts von sich hören lässt. Wenn die Morddrohungen womöglich doch ernst gemeint sind ? Ich fände es klüger, auf Tierversuche zu verzichten, aber Riku sagt, ohne neue und immer wieder neue Experimente könne er seine Untersuchung nicht zu Ende führen und die Entwicklung von Antidepressiva sei sinnvoll. Sinnvoll ist ein blödes Wort. Natürlich drückt es das Gegenteil von sinnlos aus, aber ich habe eine Abneigung gegen diese Wörter auf -voll. Sie sind irgendwie gewaltsam gebildet. Die Menschen suchen niveauvolle Partner oder ebensolche Autos, aber welches Niveau hat das Niveauvolle eigentlich ? Ist meine Arbeit sinnvoll ? Wer braucht schon Grammatik, wo doch der Computer ein Korrekturprogramm hat ? Das bekomme ich von meinen Schülern immer wieder zu hören. Und wozu soll’n wir überhaupt Finnisch lernen, das versteht doch sowieso kein Arsch. Alle reden bloß English, hey teacher. Ich muss versuchen, von ihren Ausgangspunkten her an sie her- anzukommen. Also schildere ich ihnen die Sieben Brüder aus einem über hundert Jahre alten Roman als Anarchisten und Rebellen ihrer Epoche, als Außenseiter, vergleichbar mit den heutigen Skatern, Graffitimalern und militanten Tierschützern. Manche spricht das an, aber dafür wird es umso schwieriger, das Ende des Romans zu erklären. Auch ihr werdet zwangsläufig ehrbare Bürger, wie die Sieben Brüder. Aus dem Kalevala, dem alten Nationalepos, mache ich eine Art Abenteuerspiel, ich re- duziere die Handlung auf einen Plot, in dem man von einer Ebene zur nächsten vordringen kann wie bei den unendlichen Burglabyrinthen auf Lauris Computerbildschirm. Die Mädchen stellen Väinämöinens Heldencharakter in Frage, wenn wir zu der Szene kommen, wo er Aino verführen will : Was bildet der alte Knacker sich ein ? Fast in jeder Klasse gibt es mindestens ein Mädchen, das Aino heißt und prompt rot wird. Aber wenn man die Sprache des Kalevala vereinfacht, büßt es etwas Wesentliches ein : den Stabreim und die reichhaltigen, vom Versmaß erzwungenen Ausdrucksformen. Ich versuche meinen Schülern zu erklären, dass das Kalevala zu seiner Zeit etwas Ähnliches war wie heute der Rap, dass jeder, der wollte, Verse reimen und singen und durch seine Lieder einen ge- wissen sozialen Status erringen konnte, genau wie die heutigen Idole. Weil es damals keine Straßen, sondern nur Wälder gab, brauchten die Sänger wood credibility, füge ich hinzu und ernte dafür ab und zu einen höflichen Lacher. Manchmal frage ich mich, war um ich mir überhaupt die Mühe mache. Wahrscheinlich, weil ich diese Klassiker der finnischen Literatur so mag und meinen Genuss mit anderen teilen will. Jaana legte das Lesebändchen ein und schlug das im Louvre gekaufte Tagebuch zu. Diese Eintragung konnte Riku getrost lesen. Sie hatte nicht gelogen, sie war tatsächlich immer unruhig, wenn er länger als gewöhnlich ausblieb. Achselzuckend ging sie in die Küche und schaltete den Wasserkocher ein. Gleich dar auf sah sie Rikus hochgewachsene, magere Gestalt über die Schneehäuf- chen auf dem Weg zum Haus springen. Vielleicht wollte Riku auch einen Tee ?
« Hallo, du bist aber spät dran. » Jaana gab sich Mühe, den Satz nicht vorwurfsvoll klingen zu lassen. « Ich musste länger bleiben, um Da Silva zu erreichen. Die Brasilianer haben andere Arbeitszeiten als wir. » Riku sah die Post durch. Jaana wusste bereits, dass nichts Schlimmes dabei war, kein Drohbrief militanter Tierschützer, die Rikus Privatanschrift längst ausfindig gemacht hatten. Sie sah, dass sich seine Muskeln allmählich lockerten. Entwarnung. « War’s ansonsten ruhig bei der Arbeit ? », fragte sie und gab vorsichtig Teeblätter in die Kanne. Grüner Tee wurde schnell bitter. « Heute ja. » Riku setzte sich an den Esstisch. Er hatte sich am Morgen nicht rasiert, und im schräg einfallenden Frühlingslicht schimmerten seine Bartstoppeln silbrig, nicht mehr goldblond wie früher. Er war im Lauf des Winters deutlich gealtert. « Die Drohungen richten sich nur gegen das, was du tust », sagte Jaana und versuchte aufmunternd zu lächeln. Rikus Gesicht verfinsterte sich. « Ich bin, was ich tue. Ich kann mich nicht in einen ArbeitsRiku und einen Privat-Riku aufspalten. War um sollte ich auch ? » Dar auf hatte Jaana keine Antwort parat. Eigentlich versuchte man ja ständig, andere Menschen aufgrund ihrer Eigenschaften in eine Schublade zu stecken. Du bist, was du isst. Sag mir, wer deine Freunde sind, und ich sage dir, wer du bist. Gib Auskunft über deinen Beruf, dein Einkommen und deine sexuellen Vor- lieben, damit wir dich abstempeln und archivieren können.
Jaana wusste, dass sie sich genauso verhielt, wenn sie unter ihren Schülern bestimmte Typen ausmachte : Streber, Störenfriede, Außenseiter, Kinder aus Problemfamilien. Das erleichterte die Arbeit, man brauchte nicht tiefer zu schauen.
Am nächsten Tag, einem Freitag, hatte Jaana Geburtstag. Einundvierzig war keine runde Zahl, aber sie hoffte dennoch, dass Riku die Familie zum Essen einladen würde. Dann fiel ihr plötzlich ein, was sie vor zwei Tagen in ihr Tagebuch geschrieben hatte, als sie noch nicht wusste, dass Riku dar in las.
15. 3. 200x Mitte März, in den Ortschaften färbt sich der Schnee allmählich schwarz. Morgens trägt er noch, Riku ist gestern schon früh um sechs zum Skilaufen gegangen. Nachmittags ist der Schnee grobkörnig und spröde, er pappt nicht mehr und schmilzt, wenn man einen Schneeball machen will. Die Schneewehen sind so hart, dass es wehtut, und gleichzeitig nass, man kann einfach nicht anders, als verzweifelt strampelnde Siebtklässler reinzuschubsen, zumindest, wenn man Joni Rautiainen heißt. Schnee- haufen sind überhaupt nur dazu da, dass der Schultyrann Rautiainen aus der 9 B Siebtklässler hin einstoßen kann. Natürlich musste ich eingreifen. Eigentlich sollte man Rautiainen in die Sonderschule schicken, damit er die anderen nicht dauernd terrorisiert. Er kommt aus einer dieser « Unser-Kind- doch-nicht »-Familien, gegen die kein Kraut gewachsen ist. Der Vater bespricht am Handy Dienstliches, während er sich lustlos mit dem Klassenlehrer unterhält, die Mutter erscheint gar nicht erst. Wenn ich solche Leute erlebe, glaube ich für eine Weile, dass Riku und ich doch ganz passable Eltern sind.
Am Freitag habe ich Geburtstag. Abends muss ich zum Yoga, aber das ist schon um halb acht zu Ende. Danach könnten wir feiern, vielleicht alle zusammen in Helsinki lecker essen gehen. Oder wenigstens in Espoo. Aber wahrscheinlich müsste ich das selbst organisieren, Riku kommt einfach nicht auf so was.