Psychotraumatologie ist ein eigenständiger Zweig der Psychotherapie. Sie befasst sich mit der Erforschung und Behandlung seelischer Verwundungen (Traumata). In den Medien und auch der Fachliteratur ist gleichbedeutend von „Traumatherapie“ die Rede.
Trauma
Ein Psychotrauma ist eine seelische Wunde, die auf einzelne oder mehrere Ereignisse zurückgeht, bei denen im Zustand von extremer Angst und Hilflosigkeit die Verarbeitungsmöglichkeiten des Individuums überfordert waren. Fischer und Riedesser definieren in ihrem „Lehrbuch der Psychotraumatologie“ (München, 1998) den Begriff „Psychotrauma“ wie folgt: „... ein vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und den individuellen Bewältigungsmöglichkeiten, das mit Gefühlen von Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe einhergeht und so eine dauerhafte Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis bewirkt“ (S. 79). Solch ein traumatisierendes Ereignis führt bei etwa 20% der Betroffenen zu offensichtlichen posttraumatischen Belastungsstörungen. Posttraumatische Belastungsstörungen sind ein lange bekanntes und gut beschriebenes Krankheitsbild. Diagnostiziert wird die posttraumatische Belastungsstörung jedoch erst seit 1980, mit ihrer Aufnahme in die 3. Version des Diagnostischen und Statistischen Manuals psychischer Störungen (DSM - IV).
Die drei diagnostischen Kriterien sind: Einbrüche von Trauma-Material in den Alltag (Intrusionen), Vermeidung (Avoidance) und Übererregung (Hyperarousal).
Bei den wesentlich häufigeren komplexen Posttraumatischen Belastungsstörungen kommen formal noch Dissoziative Störungen hinzu, die allerdings mit den genannten drei Kriterien in unmittelbarem Zusammenhang stehen. Unter Intrusionen fallen auch die sogenannten Flashbacks. Dabei kommt es u. U. noch Jahrzehnte nach dem Ereignis zu sich aufdrängenden extrem unangenehmen Wiedererinnerungen an das Ereignis, so als laufe es wie in einem Film noch mal ab. Auch in Träumen kann sich die intrusive Symptomatik widerspiegeln. Die Vermeidung ist gekennzeichnet dadurch, dass die Person Dinge, Situationen, Themen und sogar Gefühle, die an das Trauma erinnern, bewusst und unbewusst vermeidet. Die psychovegetative Übererregung wie starke Angst, Beklemmung und Schreckhaftigkeit zusammen mit körperlichen Symptomen gehören zum Symptomenkomplex Hyperarousal. Die Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung wird in der Praxis oft weiter gefasst als im DSM-IV bzw. ICD-10 vorgesehen, da neuere Studienergebnisse zeigen, dass nach einem traumatisierenden Ereignis auch solche Patienten, welche die Kriterien einer posttraumatischen Belastungsstörung nur teilweise erfüllen, einen erheblichen Leidensdruck sowie umfangreiche Symptomatik aufweisen können und Behandlung benötigen. Die Auswirkungen eines traumatischen Ereignisses hängen sowohl vom Ereignis als auch von den Verarbeitungs- und Bewältigungsmöglichkeiten des betroffenen Individuums ab. Daher entwickeln sich unterschiedlichste Störungsmuster. In der Resilienzforschung wird untersucht, welche persönlichen Schutzfaktoren und Fähigkeiten eine Bewältigung extremer Ereignisse erleichtert. Jedoch bleibt klar, dass bestimmte Ereignisse für beinahe jeden Menschen eine Bedrohung und Überforderung darstellen, die auch bei bester seelischer Gesundheit kaum symptomlos verarbeitet werden kann. Die persönlichen Vorbedingungen beeinflussen sowohl die Symptomatik als auch Verlauf und Prognose erheblich, was normalerweise eine kombinierte Trauma- und psychodynamische Behandlung erfordert.
Methoden der Traumatherapie
Hinter dem Begriff steht eine Reihe unterschiedlicher therapeutischer Ansätze, Modelle und Methoden. Jede große psychotherapeutische Schule hat einen eigenen Ansatz zur Behandlung traumatischer Störungen entwickelt. So z. B. Verfahren der kognitiven Verhaltenstherapie bzw. Verhaltenstherapie und psychoanalytische Verfahren. Aus der inzwischen auch neurophysiologisch untermauerten Erkenntnis, dass traumatisierte Menschen eine von anderen psychologischen Störungsbildern deutlich verschiedene Dynamik und Physiologie aufweisen, haben sich auch Methoden entwickelt, die speziell der Trauma-Behandlung dienen. Letztlich ist das gemeinsame Ziel, zu einer geordneten Verarbeitung des Traumas bzw. der Traumata zu kommen und dadurch die traumatypischen Symptome entweder zu begrenzen bzw. kontrollieren oder aufzulösen. Hilfe zur Integration der verschiedenen Ansätze verspricht die neuerdings gewonnene Fülle an neurophysiologischen Erkenntnissen über Traumatisierung. Debriefing: Eine umstrittene Methode, die besonders bei Massenereignissen genutzt wird. Die erlebte Geschichte wird im Kreise der Betroffenen wieder und wieder erzählt, bis die Erregung beim Erzählen abflacht und eine gewisse Integration stattfindet. Es ist mehr eine Soforthilfe als ein Therapieverfahren. Bei Menschen, die auch das Bedürfnis haben zu erzählen, hat dieser Ansatz Erfolge gebracht, bei den anderen kann die Verarbeitung dagegen sogar erschwert bzw. das Trauma vertieft werden. EMDR: Bei dieser Methode wird eine intensive Koordination und Zusammenarbeit beider Hirnhälften angestrebt, um zu einer schnelleren und tieferen Integration des Geschehens zu kommen. Wie auch bei den anderen Verfahren braucht es einen erfahrenen Behandler, der in der Lage ist, Umfang und Tiefe der Traumabearbeitung zu kontrollieren. Imaginative Verfahren: Sie nutzen tiefere Schichten der Psyche durch die Verwendung von inneren Bildern, traumähnlichen Verarbeitungswegen und der Arbeit mit inneren Teilen und Aspekten.
Dadurch kommen sie psychisch zu einer tiefen Ebene der Verarbeitung. siehe auch: Psychodynamisch Imaginative Traumatherapie Ego-State-Therapie
Narrative Verfahren: Im Traumaopfer besteht meist ein innerer Drang, die verlorenen oder isolierten Elemente des Traumas zu einer Geschichte zusammenzufügen, diese mit Sinn oder Bedeutung zu verbinden und in die persönliche Lebensgeschichte zu integrieren (vgl. Narrative Expositionstherapie). Erzählende Verfahren haben das Ziel, zu dieser zusammenhängend erzählten Geschichte zu kommen, in der es möglich ist, alle Trauma-Elemente einzubinden sodass schließlich starke Emotionen oder körperliche Reaktionen abnehmen. Mittlerweile gibt es gute empirische Evidenz für die Wirksamkeit der Narrativen Expositionstherapie bei einfachen und multiplen Traumata. Diese Therapiemethode wird auch international empfohlen (vgl. 'NICE guidelines' - National Institute for Health and Clinical Excellence). Somatic Experiencing: Ein neurophysiologisch-psychologischer Ansatz, der die Geschichte des Traumas über die Körperreaktionen verfolgt und auf mehreren Ebenen die Geschichte, deren Bedeutung, die Traumaelemente und -reaktionen zu einer inneren Lösung bringt. Somatic Experiencing bietet auch das Werkzeug mit den vielen weniger beachteten dissoziativen Symptomen zu arbeiten und setzt noch unterhalb der Psyche bei den biologischen Überlebensreaktionen, die den Kern der Trauma-Reaktion bilden, an. Trauma wird nicht als Krankheit, sondern als eigentlich physiologisch sinnvolle Reaktion des Organismus angesehen, die nicht zum Abschluss gebracht werden konnte. Trauma- und Körperorientiertes Behandlungsmodell: Ein Beispiel dafür gibt das SPIM-20-KT. Das Somatisch-Psychologisch-Interaktive Modell in der Standard-20-Version zur psychotherapeutischen Behandlung von Komplextraumatisierten und anderen Störungsgruppen ist ein trauma- und körperorientiertes Einzel- und Gruppentherapiekonzept, das neue Akzente in der traumatherapeutischen Behandlung setzt. Es kommen spezielle Therapiemedien zum Einsatz, die die gestaltatmosphärische Einrichtung von originären Settings in der Kinder- und Erwachsenentherapie erlauben. In bestimmten Behandlungsetappen werden Interventionen zur frühkindlichen Nachnährung und Rolleninszenierungen diagnostisch und therapeutisch mit Aspekten von Spiel und Ernst vereint.
Verhaltenstherapeutische Ansätze: Wesentliche Elemente, besonders die so genannten "Trigger", die die äußeren oder inneren Auslöser für das Trauma stellen, verketten einen Reiz mit einer unerwünschten Reaktion. Verhaltenstherapie versucht die einzelnen Elemente, die eine traumatische Reaktion hervorrufen, zu identifizieren und die Reaktion vom Reiz abzukoppeln, und somit die Auslösung der Traumasymptome zu erreichen. Die verschiedenen Methoden können einander ergänzend gesehen werden als multidimensionale Ansätze für ein multidimensionales Geschehen.
Übertragung und Gegenübertragung in der Traumatherapie
Nach der ursprünglich an das Neurosenmodell angelehnten traditionellen Fassung des Übertragungskonzeptes betrachtet die Psychoanalyse eine Übertragung als Wiederholung und Fixierung von Beziehungsformen infantilen Ursprungs. Diese aktualisieren sich in der therapeutischen Beziehung als "Übertragungsneurose" und können dann durch Widerstandsanalyse und Deutung allmählich abgebaut und behandelt werden. Die Übertragungsneurose in einer Traumatherapie gezielt zu fördern ist jedoch kontraindiziert, da durch eine neutrale Haltung des Therapeuten unbewusst die Selbstbeschuldigungstendenzen des Traumapatienten verstärkt oder die Wiederkehr belastender Erinnerungen zum Tatgeschehen gefördert werden können, was sich möglicherweise retraumatisierend auswirkt.
Statt dessen besteht die Notwendigkeit eines "interaktiven Verständnisses" der therapeutischen Beziehung. Die Beziehungsarbeit fordert vom Therapeuten flexibles Pendeln zwischen Identifikation und Distanzierung, die Gegenübertragung sei betrachtet als Interaktionsgeschehen und Verstehenshilfe für den Therapeuten. Auch sind spezielle "Fallen" im Übertragungsgeschehen einer Traumatherapie zu beachten, wie der unbewusste "Beziehungstest des Patienten auf möglichen Missbrauch durch den Therapeuten" etc.. Ein Kompetenter Umgang mit Übertragung und Gegenübertragung ist u. a. auch nötig, da Traumatherapeuten in Gefahr sind stellvertretend traumatisiert zu werden. Dies geschieht durch direkte Überflutung mit Traumamaterial bei zu großer Nähe und durch indirekte Unterwanderung des kognitiven Schutzwalles bei zu viel Distanz.
Geschichte der Traumatherapie
Die Traumatherapie unterliegt einem wechselnden Rhythmus von Wiederentdecken und Verdrängung. Bei massenhaftem Auftreten von Traumatisierungen wurde das Thema jeweils akut. Danach ist es selbst in Fachkreisen wieder vergessen worden. In der heutigen Literatur wird wiederholt auf Jean-Martin Charcot und seine Erforschung der "Hysterie" im Paris des ausgehenden 19. Jahrhundert hingewiesen. Danach erlangte das Thema infolge der Weltkriege erneut Aktualität. Kriegsneurosen wurden am Tavistock-Institut erforscht, von Bion wurde dort die Gruppenanalyse entwickelt. In den 70er Jahren erfuhr die Traumaforschung und ihr folgend die Traumatherapie einen neuen Aufschwung durch die Vietnam-Kriegsveteranen. Impulse zur Weiterentwicklung kamen auch von der Beschäftigung mit Spätfolgen und generationsübergreifenden Folgen des Holocaust, aus der Frauenbewegung zu den Themen sexueller Missbrauch, Vergewaltigung und häusliche Gewalt sowie aus den psychosozialen Zentren für Flüchtlinge zu den Folgen von Folter, politischer Verfolgung, (Bürger)krieg und Zwangsprostitution. Neuerdings wird das öffentlich Interesse auch durch die mediale Verbreitung von Katastrophen wie dem Zugunglück in Eschede 1998, dem Anschlag auf das World Trade Center 2001, der Tsunamikatastrophe in Asien 2004 oder bei Opfern von Entführungen auf die Folgen von Traumata gelenkt. Dabei wurde festgestellt, dass die gehirnphysiologischen Prozesse und die Symptome der Traumatisierung ähnlich sind, egal ob das Trauma im Schützengraben, bei einem Autounfall oder durch eine Vergewaltigung erlitten wurde. Dies gab der heutigen Traumatherapie eine breitere Basis und allgemeine Bedeutung.
Literatur
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Weblinks
http://www.degpt.de DeGPT - Deutschsprachige Gesellschaft für Psychotraumatologietrauma-pages: Artikel Nijenhuis 2004
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Die Psychodynamisch Imaginative Trauma Therapie (PITT) nach Luise Reddemann ist eine tiefenpsychologisch-psychodynamische Kurzzeitpsychotherapie. Sie wird insbesondere in der Arbeit mit Trauma-Patienten im stationären Rahmen eingesetzt. Die PITT setzt verstärkt bei den Ressourcen der Patienten an, wobei sie die gesteuerte Spaltung (Dissoziation) als therapeutisches Instrument nutzt.
Theoretische Grundannahmen
Die Psychodynamisch Imaginative Traumatherapie ist eine Antwort auf die in der psychoanalytischen Arbeit mit Trauma-Patienten beobachteten Schwierigkeiten: einerseits die massiven Gefühlsüberflutungen und damit zusammenhängenden Gefühls-Abspaltung, andererseits die daraus entstehenden Übertragungs- und Gegenübertragungs-Konflikte, sowie die von vielen Psychoanalytikern geforderte sehr lange Therapie-Dauer. Grundlegend ist die Ich-Psychologie und die Objektbeziehungstheorie. Traumatische Erfahrungen werden als Gedächtnisspur behalten. Dabei ist die Art des Erinnerten und dessen Grad an Bewusstsein stark von dem Entwicklungsstand zur Zeit der Erfahrung abhängig. Überwältigende Gefühle werden abgespalten (Dissoziation). Frühe Beziehungsmuster werden verinnerlicht (Introjektion) und in aktuellen Beziehungen wiedererlebt. Abwehrmechanismen kontrollieren die Gefühle und verändern die Wahrnehmung anderer und die Eigenwahrnehmung, und unterdrücken innere Bedürfnisse und verhindern die befriedigende Teilnahme am Leben.
PITT stärkt die Ressourcen. Reddemann regt den Patienten an, Spaltungsmechanismen bewusst anzuwenden um sich über Selbstregulation vor negativen Affekten und Affektüberflutung zu schützen. Sie meidet Deutung und Konfrontation. Sie würdigt die Abwehrmechanismen als notwendig und nutzt diese gezielt zur Stabilisierung. Das Ich betrachtet Sie als "inneres Team" verschiedener Persönlichkeitsanteile, die miteinander in Kontakt zu bringen sind. Die PITT hat spezielle Techniken für dissoziative Patienten entwickelt, bzw. von anderen Therapieformen integriert, die eine kürzere Behandlungsdauer ermöglichen. Auf einer „innere Bühne“ als imaginären Raum für die bildhafte Vorstellung werden hilfreiche Bilder erzeugt. Der Patient bringt den verletzten inneren Anteil - meistens ein „inneres Kind“ - an einen guten, sicheren inneren Ort um ihn dort von immerwährend verfügbaren idealen Eltern und „hilfreichen Wesen“ versorgen und trösten zu lassen. Die in der Therapie gelernten Übungen kann der Patient später selbständig anwenden und Stress regulieren. Angewendet werden die Methoden in der Psychotraumatologie bei Posttraumatische Belastungsstörung, Komplexe Posttraumatische Belastungsstörung, Borderline-Persönlichkeitsstörung.
Therapeutisches Vorgehen
Die "Psychodynamisch Imaginative Traumatherapie" wurde speziell für die Anwendung im Krankenhaus, also für eine meist kurze Behandlungsdauer entwickelt. Sie wurde als Handbuch (Manual) veröffentlicht. Dadurch wird die Anwendung und die Überprüfung erleichtert.
Die Therapie ist in drei Phasen gegliedert:
Stabilisierung Zuerst wird die Psyche stabilisiert durch gezielte Spaltung (Dissoziation) von belastenden Gefühlen einerseits und inneren Kraftquellen andererseits. Die Technik dafür sind innere Bilder (Imagination). Die belastenden Gefühle werden vorerst in einen "Tresor" gesperrt. Für plötzlich auftauchende überwältigende Gefühle werden Techniken zur Distanzierung gelernt: "innerer sicherer Ort" (ein Ort in der Phantasie, an den man vor jeder Gefahr sicher ist), "innerer Helfer" (eine Gestalt, die alle Kraft und Weisheit in sich birgt und einen beschützt). Gleichzeitig werden die inneren Kraftquellen durch innere Bilder aufgebaut. Dazu gibt es vielfältige Übungen, die alle auf CD veröffentlicht sind: Schulung der Achtsamkeit (Meditation, Qi Gong), Liste mit den eigenen Fähigkeiten (Ressourcen), "Notfallkoffer" (wie ich mir selbst helfen kann), "Baumübung" (so stark sein wie ein Baum), "das innere Team" (alle Aspekte der eigenen Persönlichkeit), Arbeit auf der "inneren Bühne", gelenkte Wahrnehmung des Körpers und von Körperempfindungen im "Hier und Jetzt", etc.
Traumabearbeitung Durch die distanzierende Beobachter-Technik oder Bildschirmtechnik ist eine sorgfältige schrittweise Annäherung an die traumatischen Gefühle möglich, je nach aktuellem Stand der inneren Sicherheit. Bekannte Übungen sind: "Leinwand" (wie im Kino das Geschehen als Zuschauer betrachten), "Hubschrauber" (das Ganze aus sicherer Distanz von oben anschauen), etc.
Integration In der letzten Phase geht es darum, der Trauer eine Gestalt zu geben, Gefühle von Schuld und Sühne loszulassen, Sinnfragen zu klären, Dankbarkeit und Versöhnung zu erreichen und letztlich ein neues Leben zu beginnen. Dabei helfen wieder Imagination, Rituale (Briefe schreiben und verbrennen, Gegenstände begraben), Geschichten erfinden (erzählen und spielen), Kunsttherapie und Gestaltungstherapie.
Kombination mit anderen Therapieformen
Häufig werden verschiedene psychotherapeutischen Techniken miteinander kombiniert:
PITT eignet sich durch die eher sanfte Form der Traumakonfrontation auch für ambulante Behandlungs-Phasen, die dann mit stationären kombiniert werden. Mit EMDR können mit PITT vorbereitete Traumainhalte noch tiefgreifender behandelt werden. Wegen der heftigeren Reaktionen und Belastung ist dabei das stationäre Setting zu bevorzugen. Bei der Bildschirmtechnik von Ulrich Sachsse projiziert der Patient die Traumathematik auf einen Bildschirm. Dabei steuert er mittels einer "Fernbedienung" die Dauer des Betrachtens sowie Nähe, Größe, Deutlichkeit etc. des Sichtbaren. Die Mehrdimensionale Psychodynamische Traumatherapie (MPTT) von Fischer verbindet imaginative, kognitive und verhaltenstherapeutische Elemente integrativ mit einem psychodynamischen Konzept der Beziehungsgestaltung und Therapieplanung. "Pendeln" zwischen Wohlgefühl und Missempfindung setzt durch das Trauma im Nervensystem gebundene Energie in kleinen Schritten frei, ohne dabei auf eine spezielle Traumathematik selbst einzugehen. Siehe Somatic Experiencing nach Peter Levine.
Quellen
↑ L. Reddemann: "Die psychodynamisch imaginative Traumatherapie (PITT)." Zeitschrift für Psychotraumatologie & Psychologische Medizin 1. Jg. (2003), Heft 2 ↑ Luise Reddemann: Psychodynamisch Imaginative Traumatherapie. PITT - das Manual (Reihe:Leben lernen 167). 3. Auflage. Pfeiffer bei Klett-Cotta, 2005, ISBN 3-608-89729-1, S. 154-171.
Literatur
Luise Reddemann (Hrsg.): Psychotraumata. Primärärztliche Versorgung des seelisch erschütterten Patienten. Köln: Deutscher Ärzte-Verlag, 2006 Luise Reddemann: Psychodynamisch Imaginative Traumatherapie. PITT das Manual. Pfeiffer bei Klett-Cotta, 2004, ISBN 3-608-89729-1 Luise Reddemann: Die psychodynamisch imaginative Traumatherapie (PITT). Zeitschrift für Psychotraumatologie & Psychologische Medizin 1. Jg. (2003), Heft 2 Luise Reddemann: Imagination als heilsame Kraft. Zur Behandlung von Traumafolgen mit ressourcenorientierten Verfahren, 2001, ISBN 3608897089
Siehe auch
Eye Movement Desensitization and Reprocessing (EMDR) Transference-Focused-Psychotherapy (TFP) nach Otto F. Kernberg Ego-State-Therapie Inneres Team
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Die Ego-State-Therapie (englisch: Ego State Therapy) ist eine psychotherapeutische Methode aus der Traumatherapie. Sie wurde von John und Helen Watkins entwickelt. Menschen, die schwer verletzt wurden (Trauma), entwickeln zum Schutz ihrer Persönlichkeit Abwehrmechanismen gegen die mit der Verletzung verbundenen Schmerz- und Angstgefühle. Einige tun dies, indem sie ihre Persönlichkeit in verschiedene Ich-Anteile (englisch: Ego States) „aufteilen“. Dies geschieht zunächst fast immer unbewusst. Diese Ich-Anteile können wie „eigene Persönlichkeiten“ ein Eigenleben entfalten, mit „eigenem“ Willen, „eigenen“ Gedanken und Gefühlen. Die Ego-State-Therapie hilft den Betroffenen, diese Ich-Anteile wieder besser in Richtung einer ganzheitlichen Persönlichkeit miteinander zu verbinden.
Geschichte
Die „Ego State Therapy“ wird von den US-Amerikanern John und Helen Watkins seit etwa 1980 in den USA entwickelt. John Watkins, 1964 bis 1987 Professor für Psychologie und Direktor der klinischen Ausbildung an der Universität von Montana (USA), zählt zu den Pionieren der Hypnotherapie und ist Mitbegründer der International Society for Clinical and Experimental Hypnosis (SCEH). Seine 2002 verstorbene Ehefrau Helen Watkins war Psychologin.
Modell der Ego-State-Therapie
Die Ego-State-Therapie basiert auf der Theorie, dass die Persönlichkeit aus verschiedenen Ich-Anteilen (Ego States) besteht. Diese Anteile sind umgrenzte und beschreibbare „Unter-Persönlichkeiten“. Sie berücksichtigt psychoanalytische Theorien, hypnoanalytische Techniken und neuere Erkenntnisse aus der Behandlung dissoziativer Störungen. Sie ist wirksam bei Posttraumatischer Belastungsstörung, Borderline-, Angst- oder Sexualstörungen und dissoziativer Identitätsstörungen. Siehe auch: Hypnoanalyse.
Gesunde Ich-Anteile Unter „Ich-Anteil“ versteht man einzelne Aspekte der Persönlichkeit, des eigenen Selbst. Sinn und Wirkung der verschiedenen Ich-Anteile sind gut beschrieben im Artikel Inneres Team. Ein gesunder, nicht traumatisierter Mensch kennt und nutzt etwa 5–15 solche Ich-Zustände. Sie sind klar bewusst und werden vom Ich gelenkt. Die meisten solchen Ich-Anteile entstehen in der Kindheit im Zuge der normalen Entwicklung. Gesunde Ich-Anteile sind Anteile aus dem „Alltags-Team“, z. B. der „kompetente Fachmann“, der vor den Kollegen einen Fachvortrag halten kann, oder die „gute Gastgeberin“, die den Kaffee von rechts nachschenken kann, oder der „Coole Typ“ in der Disco, oder der begeisterte „Radrennfahrer“. Das sind Anteile, über die der Mensch verfügt und je nach Bedarf zwischen ihnen umschalten kann.
Siehe auch: Eric Berne bzw. dort: Entdeckung der Ich Zustände.
Ungesunde integrierte Anteile Im Übergangsbereich zwischen den gesunden und den abgespaltenen Anteilen gibt es ungesunde, integrierte und bewusst zugängliche Anteile, die auch ohne Hypnose oder Trance therapeutisch bearbeitbar sind.
Ein neuer Ich-Anteil kann auch als Folge eines Widerstands in der Therapie auftreten. Der Patient wird z. B. „plötzlich so müde“. Dadurch soll das Bewusstwerden einer alten, der aktuellen Realität schlecht angepassten Struktur des Patienten (beziehungsweise beängstigender Gefühle dahinter) verhindert werden. Der neue Ich-Anteil hat die Aufgabe davon abzulenken, „dass es da etwas gibt“, beziehungsweise einen anderen Ich-Anteil, der mit der Gestaltung der alten (und heute unangemessenen) Struktur beauftragt war, zu schützen. Der Therapeut könnte jetzt mit dem aktuellen Widerstand arbeiten, d. h. ihn z. B. zum Kennenlernen „auf die innere Bühne bitten“ und ihn sich vom Patienten bildhaft vorstellen (imaginieren) lassen. („Was ist die Aufgabe dieser Müdigkeit, wovor soll sie schützen?“) Gelingt dies, führt es zum ursprünglichen Ego State (also der heute schlecht angepassten Struktur), mit dem dann therapeutisch weiter gearbeitet werden kann. Abwehrmechanismen sind bis zu einem gewissen Grad der Ausprägung als ganz normale Schutzmechamismen zu betrachten, die jeder Mensch hat und braucht. Krankheitswert hat eine jeweils extreme Ausprägung. Beispielsweise da, wo die Entwicklung der inneren Struktur in unbewältigten Konflikten bzw. den Grundkonflikten fest hängt, leisten solche Ego-States ihre überkommenen Aufgaben, die für „den Menschen heute“ eine ungesunde Wirkung haben.
Siehe auch Grundkonflikt hier z. B. Grundkonflikte nach der Operationalisierten Psychodynamischen Diagnostik (OPD) Die Psychoanalyse verwendet den Begriff Charaktertypen für ein Set der jeweils vorherrschenden Abwehrmechanismen.
Siehe auch: Charaktertypen.
Abgespaltene Ich-Anteile Mit traumatisch verletzenden Situationen verbundene Gefühle können so stark sein, dass Menschen sie nicht aushalten. Auch konfliktbeladene Situationen können an einen Menschen Forderungen stellen, worauf er noch „keine Antwort“ hat und die eine entsprechend tiefe Angst auslösen können. Dagegen wird ein Abwehrmechanismus aufgebaut. Eine Form ist die Abspaltung von Ich-Anteilen. In diesen sind Gefühle und Energien ungelöster Traumata abgespeichert. Es können spezielle Formen und Aufgaben solcher Ich-Anteile unterschieden werden: „Verfolger“, radikale Helfer, Täter-Introjekte (täteridentifizierter Anteil), Angreifer, Mittäter-Introjekte (täterloyale Anteile). Einzelne Ich-Anteile können sich auch überlagern und ggf. gegenseitig verstärken, wie z. B. täteridentifizierte und täterloyale Anteile. In idealer Reinform tritt ein einzelner Ich-Anteil selten zu Tage.
Als Beispiel sei ein Mensch betrachtet, der von Kindheit an von einem Familienmitglied misshandelt wird, inzwischen als Erwachsener in einer eigenen Wohnung lebt, und vom Täter weiterhin zu Gewalthandlungen aufgesucht wird. Sein gesunder, in der Therapie kontaktierbarer Ich-Anteil kann die neue Information lernen „Du musst ihn nicht reinlassen.“ Das wird den Menschen zwar stärken, dennoch sagt er z. B. „Ja, aber ich kann es nicht versprechen.“ Denn da gibt es auch noch den täteridentifizierten Anteil, der glaubt, gemäß der früheren Erfahrung den Menschen weiterhin (relativ) schützen zu müssen, indem er tut, was der Täter verlangt. So kann es zu der kontinuierten Entscheidung kommen, den Täter wider besseres Wissen immer wieder in die eigene Wohnung einzulassen, nach dem alten Motto: „Du musst tun was er will, sonst schlägt er Dich tot“. Dieser Anteil ist abgespalten und unterliegt nicht der Ich-Kontrolle. Abgespaltene Ich-Anteile erscheinen so, als hätten sie eine „eigene Persönlichkeit“, mit „eigenen“ Gefühlen und Gedanken. Sie halten ihre Existenz für hilfreich und überlebenswichtig, sind potentiell auch auf lebenslanges Bestehen angelegt. Manche „kennen“ sich gegenseitig und sind miteinander in Kontakt. Andere sind gänzlich abgespalten (Untergrund-Ich-Anteile); die Kern-Persönlichkeit ist nicht mehr in Kontakt mit ihnen und sie sind oft nur noch mittels Hypnose oder Trance zugänglich.
Siehe auch: Dissoziative Identitätsstörung.
Solche Ich-Anteile sind nicht zu verwechseln mit im Zuge der psychosozialen Entwicklung aufgenommenen Introjekten, also inneren Abbildern von Personen, die uns wichtig waren und deren Werte, Normen und Verhaltensmuster wir in uns aufgenommen haben. Introjekte starten nicht als Abwehrmechanismen und sind auch ohne Hypnose oder Trance im therapeutischen Gespräch zugänglich für die Aufnahme neuer, realer Informationen (lassen ein „Update“ ihrerselbst zu). Lautet beispielsweise ein überbrachtes Gesetz (Introjekt) einer wichtigen Bezugsperson aus der Kindheit „Du darfst nicht weinen“, so kann der innere Anteil, der das vertritt, in der Therapie nach und nach umlernen, bis das neue, eigene Gesetz schließlich lautet „Du darfst weinen soviel Du willst“. Introjekte bestehen nicht darauf zu bleiben (wie die Ego States); man kann sie ändern oder auffordern zu gehen.
Ziele
Oberstes Ziel ist, den Stress im inneren System zu reduzieren und die Energie wieder auf die Gestaltung eines erfüllten Lebens auszurichten. Der Patient soll lernen, die unterschiedlichen Persönlichkeitsanteile (die damit verbundenen Bedürfnisse und Standpunkte) besser miteinander abzustimmen und sich für die wesentlichen zu entscheiden und entsprechend zu handeln. Je nach Schweregrad der Störung können die Ich-Anteile vollständig integriert werden (Inneres Team), oder sie werden, nun gelenkt vom eigenen Selbst, symbolisch weiterhin als „eigene Persönlichkeiten“ betrachtet, aber jetzt konstruktiv-integrativ eingesetzt.
Methoden
Die abgespaltenen Ich-Anteile sind ein Teil vom eigenen Selbst. Deshalb ist es wichtig, sie als wertvolle Ressource anzunehmen. Sie haben treu und zuverlässig über lange Jahre genau das getan, womit sie einst beauftragt wurden. Auch wenn sie heute nicht mehr angemessen für das Selbst des Patienten sorgen können.
Die Therapie erfolgt in vier Phasen: innere Sicherheit schaffen Trauma finden, Ressourcen klären stabilisieren, Traumaerfahrung durcharbeiten Erfahrungen integrieren, Persönlichkeit und Identität festigen
In der Therapie kann der Therapeut einen Ich-Anteil direkt ansprechen. Er wird so symbolisch-imaginativ aktiviert und kann zu seiner Geschichte, zu seinen Erfahrungen, seiner Aufgabe, seinen Zielen, Gedanken, Wünschen, Hoffnungen und Ängsten direkt befragt werden. Im „Gespräch“ des Therapeuten beziehungsweise des Patienten mit dem Ich-Anteil und der Ich-Anteile untereinander können sich diese verändern und entwickeln. Der Patient kann die „Ich-Anteile“ mit neuen Daten zur aktuellen Realität versorgen und lernen, die in diesen Ich-Anteilen enthaltenen Erfahrungen und Ideen selbst zu steuern und zu integrieren und die oft verborgenen Ressourcen zu nutzen. Verfestigte Ich-Anteile „fürchten“ häufig, sich auflösen oder verschwinden zu sollen, wenn sie in der therapeutischen Arbeit „entdeckt“ werden. Deshalb ist es wichtig, ihre bisherigen Verdienste zu würdigen, so paradox es erscheinen mag, und ihnen Unterstützung zukommen zu lassen oder ihnen neue wichtige Aufgaben zuzuweisen, denen sie sich gewachsen fühlen, sie also somit neu zu integrieren. Siehe auch die Methoden in: Psychodynamisch Imaginative Traumatherapie.
Einordnung des Therapieansatzes
Aufbauend auf der Erkenntnis, dass der Mensch verschiedene innere Anteile entwickeln kann, entstanden unterschiedliche therapeutische Herangehensweisen. Beispielsweise flossen die von Sigmund Freud benannten Anteile Es – Ich – Über-Ich in die psychoanalytisch/tiefenpsychologisch orientierten Therapieansätze ein. Die Arbeit mit dem Inneren Kind kam auf und fand u. a. Niederschlag in der Psychodynamisch Imaginativen Traumatherapie von Reddemann. Therapeuten, die mit schwer traumatisierten Menschen arbeiteten, stellten fest, dass diese Konzepte noch nicht weit genug gingen. Es entwickelten sich neue Ansätze, die von vielen inneren Anteilen (Ego State Modell) innerhalb einer Person ausgehen, welche beschreibbar und einzuordnen und in ähnlicher Form auch bei anderen Menschen wieder zu finden sind. Oftmals werden die verschiedenen Therapieansätze auch miteinander kombiniert wie es in der Psychotherapie heute ohnehin üblich geworden ist. Für die Integrationsarbeit in der DIS-Therapie (Arbeit mit dissoziierten Menschen) finden aktuell z. B. Anwendung: das zielorientierte Integrationsmodell (The Tactical Integrationa Modell von Fine 1991, 1993, 1996, 1999), das strategische Integrationsmodell (Kluft 1988) und das Modell der Ego States von Watkins & Watkins. Dabei zielen die beiden ersten Modelle auf eine vollständige Integration zu einer Ganzheit der Person. Das persönlichkeitsorientierte Modell der Ego States hat eine funktionierende und zufriedenstellende Zusammenarbeit der verschiedenen Teilpersönlichkeiten und/oder Ich-Zustände zum Ziel.
Literatur
John G. Watkins, Helen H. Watkins: Ego States. Theory and Therapy. 1. ed., W. W. Norton and Company, New York (NY/USA) u. a. 1997 (= A Norton professional book), ISBN 0-393-70259-6. (engl.) John G. Watkins, Helen H. Watkins: Ego States. Theory and Therapy. 1. ed., Nachdruck, W. W. Norton and Company, New York (NY/USA) u. a. 2007 (= A Norton professional book), ISBN 0-393-70259-6. (engl.) John G. Watkins, Helen H. Watkins: Ego-States. Theorie und Therapie. 1. Aufl., Carl-Auer-Systeme-Verlag, Heidelberg 2003, ISBN 3-89670-414-1. (dt. Übersetzung; engl. Originaltitel: Ego states. Theory and Therapy) Luise Reddemann, Arne Hofmann u. Ursula Gast (Hrsg.): Psychotherapie der dissoziativen Störungen. Krankheitsmodelle und Therapiepraxis – störungsspezifisch und schulenübergreifend; 9 Tabellen. Georg Thieme Verlag, Stuttgart u. a. 2004 (= Lindauer Psychotherapie-Module), ISBN 3-13-130511-8. (S. 101ff: Zielorientiertes Integrationsmodell) Jochen Peichl: Die inneren Traum-Landschaften. Borderline, Ego-State, Täter-Introjekt; mit 21 Tabellen. Schattauer Verlag, Stuttgart u. a. 2007, ISBN 3-7945-2521-3. (Inhaltsverzeichnis als PDF-Datei) Jochen Peichl: Innere Kinder, Täter, Helfer & Co. Ego-State-Therapie des traumatisierten Selbst. 1. Aufl., Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2007 (= Reihe: Leben Lernen, Nr. 202), ISBN 3-608-89047-5. (Kurzbeschreibung des Inhalts)
↑ Siehe dazu in der Literaturliste die englischsprachigen Veröffentlichungen (1997, 2007) von Watkins & Watkins, sowie die inzwischen erschienene deutsche Übersetzung (2003) ihres Standardwerkes Ego States. Theory and Therapy. ↑ Watkins & Watkins: Ego-States. Theorie und Therapie, 2003 (siehe Literatur)
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